Die blauen Engel vom Berliner Ostbahnhof

Artikel: Die blauen Engel vom Berliner Ostbahnhof

Für uns alle ist 2021 das zweite Jahr in Folge, das von der Corona-Pandemie geprägt ist. Besonders betroffen sind die Ärmsten unserer Gesellschaft, gerade im Winter. Wir haben kurz vor Weihnachten die Bahnhofsmission am Ostbahnhof besucht. Hier versuchen haupt- und ehrenamtliche Helfer:innen ihren Gästen ein Stück weit Stabilität zu vermitteln.

„Hallo Jürgen, eine Stulle und einen Kaffee mit wenig Kaffee und viel Milch wie immer?“, begrüßt Marte den Rentner am provisorisch aufgebauten Biertisch inmitten von Baustellenwänden am Eingang der Bahnhofsmission am Berliner Ostbahnhof. Vom Baustellengetöse lässt sich die 41-jährige Kreuzbergerin nicht die Laune verderben. Mit einem strahlenden Lächeln, das selbst die FFP2-Maske nicht verdecken kann, drückt sie Jürgen sein Essenspaket und seinen Kaffee in die Hand. Seit fünf Jahren trägt Marte die blaue Weste der Bahnhofsmission und arbeitet ehrenamtlich einmal die Woche in der Einrichtung am Ostbahnhof. Mit 125 Jahren ist die Bahnhofsmission die Älteste in Deutschland und die einzige, die es auch in der ehemaligen DDR gab.  

Die 41-Jährige, die sich hauptberuflich mit Kunst beschäftigt, schmiert Stullen, verteilt Essen, gibt Getränke aus oder berät Gäste, die Hilfe suchen. Gäste, so nennen die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission ihre Besucher:innen, das Wort obdachlos fällt kaum.   

„Ehrenamtliche, die sich langfristig so kümmern wie Marte, sind wie ein 6er im Lotto für uns“, betont Ulrike Reiher, Leiterin der Bahnhofsmission. „Während der Corona-Lockdowns hatten plötzlich viele Menschen ganz viel Zeit und wollten helfen, das ist toll, aber wir brauchen langfristiges Engagement, weil die Ausbildung der Ehrenamtlichen durchaus aufwendig ist. Was kurzfristig hilft und aktuell Mangelware ist, sind FFP2-Masken, Corona-Tests, Desinfektionsmittel und jetzt im Winter auch Mützen, Handschuhe oder Socken“, zählt Reiher auf.

Die Pandemie hat den Alltag in der Bahnhofsmission gehörig durcheinander gewirbelt. Dabei wollen die haupt- und ehrenamtlichen Helfer:innen ihren Gästen eigentlich ein Stück weit Stabilität vermitteln. Verlässlichkeit und Sicherheit, die bei einem Leben auf der Straße völlig verloren gehen. An 365 Tagen im Jahr von 9 bis 17 Uhr sind sie für ihre Gäste da. Im Schnitt werden täglich rund 180 Menschen betreut, an Wochenenden und Feiertagen weit über 200. Während der Pandemie ist die Zahl noch einmal gestiegen. Verdeckte Obdachlosigkeit wird plötzlich offensichtlich, wenn während eines Lockdowns öffentliche Einrichtungen schließen und Unterschlupfräume fehlen.      

Aber Improvisieren haben die Helfer:innen der Bahnhofsmission gelernt. Das mussten sie durch den Umbau des Ostbahnhofs schon vor Corona. Jetzt während der Pandemie gibt es Stullen, Getränke und sonstige Leckereien draußen zum Abholen. Immerhin Duschen und zur Toilette gehen können die Gäste noch drinnen im Warmen. Was fehlt, sind Möglichkeiten, sich mit den Gästen auszutauschen. Wer erzählt schon seine Lebensgeschichte, wenn er draußen in einer Schlange steht und auf sein Essen wartet?   


Jürgen hat seinen Kaffee inzwischen ausgetrunken und bekommt Nachschlag. Der Berliner ist täglich zu Gast in der Bahnhofsmission, seit über zehn Jahren. In der ehemaligen DDR hat er als Schlosser auf dem Bau gearbeitet. Er hat gerne malocht – bei jedem Wind und Wetter. Und trotzdem reicht seine Rente zum Leben nicht. Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission kümmern sich um sein leibliches Wohl, aber nicht nur das. Sie sind für Jürgen zu einer Ersatzfamilie geworden. „Ich sehe die Leute hier öfter als meine Tochter, mir fehlt der soziale Kontakt gerade jetzt während Corona.“ Und deshalb wird er natürlich auch an Weihnachten hier am Ostbahnhof sein. Marte wird nicht da sein, sie genießt ihre wohlverdiente Freizeit. Aber sie ist mittlerweile ja nicht die einzige, die weiß, wie Stammgast Jürgen sein Lieblingsgetränk gerne trinkt: Kaffee mit wenig Kaffee, aber viel Milch.